Die Mühen der Ebene – Horst Henschel zum Gedenken

Horst Henschel, ein Freund und langjähriger Weggefährte, hat uns verlassen.
Sein Wirken als Leiter des Kunstpädagogischen Zentrums im Germanischen Nationalmuseum (KPZ, Abteilung Schulen) von 1970 bis 1998 war maßgeblich davon bestimmt, die ästhetische Bildung und Erziehung von Menschen aller gesellschaftlichen Schichten zu fördern.

Generationen von Schülerinnen und Schülern wurde der Zugang zu ästhetischen Erfahrungen ermöglicht. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf die Integration und Inklusion von Menschen, für welche der Besuch von Museen und die Auseinandersetzung mit Kunst nicht selbstverständlich war. In dieser herausragenden städtischen Institution wurden neue kunst- und kulturpädagogische Konzepte entwickelt, in denen sowohl Neugier und Staunen, wie auch das begriffliche Reflektieren sinnlicher Erfahrungen und der Mut zum Handeln zum Dreh- und Angelpunkt der individuellen Auseinandersetzung mit der Welt wurden. Dabei wurden auch zeitgemäße Medien wie Video- und Computertechnologie mit eingebunden und die kunst- und kulturpädagogischen Konzepte immer wieder dynamisch und erfahrungsgebunden weiterentwickelt. Damit hat das KPZ einen wegweisenden Beitrag zur Entwicklung der Museumspädagogik weit über Nürnberg hinaus geleistet.

Auch als Mitglied des Deutschen Werkbund Bayern setzte Horst Henschel wichtige Impulse für Nürnberg. Anfang 1978 fand in München durch die Initiative des Deutschen Werkbund Bayern ein richtungsweisendes Symposion zum Thema „Der Mensch ohne Hand oder Die Zerstörung der menschlichen Ganzheit“ statt. Im Zentrum des Symposiums stand die Frage der Verkümmerung der sinnlichen Erfahrungshorizonte der Menschen „im Zuge einseitiger, dominant theoretisch-intellektuell bestimmter Lebensausrichtung“.

Ausgehend von dieser Gesellschaftsanalyse entschloss der Deutsche Werkbund die Gründung einer Institution zur Förderung ästhetischer Bildung junger Menschen vermittels handwerklich-gestalterischer Arbeit.

Aufgrund einer glücklichen personalen Konfiguration in Nürnberg – genannt seien hier vor allem Hermann Glaser (seinerzeit Schul- und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg und Vorsitzender des Deutschen Werkbunds auf Bundesebene) und Hanns Herpich (damals Professor an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg und Vorsitzender des Bayerischen Werkbundes) – nahm dieses Vorhaben 1986 nach dreijähriger Konzeptentwicklung im damaligen KOMM (heute „Künstlerhaus“) Gestalt an. Die Werkbund Werkstatt Nürnberg trat als städtisch geförderte Bildungseinrichtung ins Leben und eröffnete jungen Teilnehmer*innen eine ganzjährige Ausbildung im gestalterisch-handwerklichen Bereich.

Von der ersten Stunde an bis zu seinem Ableben im Februar 2021 setzte sich Horst Henschel mit unermüdlichem Engagement für die Werkbund Werkstatt Nürnberg ein. Er war erster Vorstand und ab 2020 Ehrenvorsitzender im WWN e.V. Seine für die WWN prägende Wirkung war nicht allein durch seine Amtsfunktion innerhalb der Stadt Nürnberg bestimmt. Direktiven und Anweisungen waren seine Sache nicht. Als gelerntem Philologen und Bildhauer lag ihm zum einen an der Sprache als Medium des Verstehens und zum anderen an der Kunst als Movens zur Gestaltung materieller Umwelt für eine menschenfreundlichere Welt.

Horst Henschels waches Bewusstsein für eine bestimmte aber unabdingbare Freiheit, die jedem Menschen a-priori eigen ist, und die in der Kunst ihren Ausdruck findet, drückte sich in seiner Haltung aus. Eine Haltung zum Leben, die auf alle Menschen, die mit ihm zu tun hatten, abfärbte. Mut zur Verantwortung und Autonomie, Vertrauen in die menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten, welche durch eben dieses Zutrauen erweckt werden, sowie aus der Klugheit des Herzens und der Beherztheit seiner Gedankengänge, als auch aus der Offenheit für unerwartet neue Möglichkeiten waren Ausdruck seiner Lebenshaltung. Sein Wirken bestand darin, dass er vor allem junge Menschen, Kollegen und Freunde, kaum merklich – nicht aufdringlich – aber umso nachdrücklicher, dazu ermutigen konnte, ihre Fähigkeiten, Bedürfnisse und Neigungen eigenverantwortlich zu entdecken, zu entwickeln und zu erproben. Die WWN wuchs in einer lebendigen und vertrauensvollen Atmosphäre auf.

Bei aller Prozesshaftigkeit und Offenheit kunstpädagogischer Konzepte, hatte Horst Henschel aber auch ein Problembewusstsein für die Frage der Form. Beliebigkeit und Unverbindlichkeit waren ihm zuwider. Wer mit ihm über die Probleme institutioneller oder inhaltlicher Art diskutierte, musste sich anstrengen – denn, auch dazu ermutigte er – nahm sich doch immer die Zeit für jeden seiner Gesprächspartner, die er gleichermaßen wertschätzte. Geduld war auch von seinen Zuhörern gefragt, wenn Horst Henschel für ein Thema Feuer gefangen hatte und darüber ausführlich referierte. Oft staunte ich über solch ein umfassendes Erinnerungsvermögen und Detailwissen.

Als ich 2010 die Leitung der Werkbund Werkstatt Nürnberg übernahm, waren Geduld und Beharrlichkeit die Tugenden, zu denen mir Horst Henschel für meine Arbeit riet, indem er Bertold Brecht zitierte: "Die Mühen der Berge haben wir hinter uns, vor uns liegen die Mühen der Ebnen." Wie viel kleinteilig, langwierige, scheinbar unwesentliche und unmerkliche Arbeit es kostet, etwas so Einzigartiges wie die Werkbund Werkstatt Nürnberg zu unterhalten und weiter zu entwickeln, ist eine Erfahrung, die mich den Respekt vor dem Kleinteiligen und Unscheinbaren hinter den „großen Ideen“ lehrte.

Die Mühen der Berge und der Ebenen liegen nun hinter ihm. Als Horst Henschel verstarb hatte er ein leichtes Schmunzeln auf seinen Lippen. Ich denke er hatte ein arbeitsreiches aber auch erfülltes Leben aufgrund dessen er uns mit einem unerschütterlichen Zutrauen verlassen konnte.

Wir gedenken seiner in tiefster Dankbarkeit.

Norbert Zlöbl im Februar 2021